* 24 *

24. Die Versammlung

 

Tertius Fume

Aufregung und Lärm wichen einer unheimlichen Stille.

»Was ist los, Marcia?«, rief die einsame Stimme jenes Zauberers, der die Wetten angenommen hatte und angesichts dieser unerwarteten Wendung der Ereignisse auf einen warmen Geldregen hoffte. »Gehört das auch zur Projektion?«

»Seien Sie nicht albern, natürlich nicht«, fertigte Marcia ihn ab und raunte, da ihr nun selbst leise Zweifel kamen, Septimus zu: »Das gehört doch nicht mehr zu deiner Projektion, oder?«

»Nein«, antwortete Septimus mit Bedauern, denn Tertius Fumes Erscheinen ließ nichts Gutes ahnen.

Tertius Fume blieb auf der Schwelle des Zaubererturms stehen und bedachte Marcia mit einem spöttischen Blick. »Nun«, sagte er, »wollen Sie uns nicht hereinbitten? So will es der Brauch. Und nach meinem Verständnis ist es sogar Vorschrift!«

»Vorschrift?«, erwiderte Marcia, spähte ins Halbdunkel hinter dem Geist und fragte sich, warum er uns gesagt hatte. Und dann sah sie es – hinter Tertius Fume ergoss sich ein lila Meer. Es bedeckte die weißen Marmorstufen, überschwemmte den Platz und wogte im trüben Licht auf und nieder. Vor der Tür schwebten die Geister Hunderter Außergewöhnlicher Zauberer. Marcia erbleichte. »Oh«, hauchte sie.

»Oh – das kann man wohl sagen«, grinste Tertius Fume.

Mit Schrecken begriff Marcia, was das war – die Versammlung der Geister. Mit diesem Anblick hatte sie nicht vor dem allerletzten Tag von Septimus’ Lehrzeit gerechnet, jenem Tag, an dem die Versammlung gewöhnlich zusammentrat und der Lehrling einen Stein aus der Questenurne ziehen musste. Dies war ein schrecklicher Moment, denn jeder wusste: Wenn der Lehrling einen der Questensteine zog, wurde er unverzüglich auf die Queste geschickt, und bis heute war noch keiner von dieser Reise zurückgekehrt. Wie alle anderen Außergewöhnlichen Zauberer vor ihr – mit Ausnahme DomDaniels, der sich darauf gefreut hatte, dass sein Lehrling die wohlverdiente Strafe bekam – hatte Marcia diesen Tag immer gefürchtet. Tatsächlich war dies einer der Gründe, warum sie viele Jahre lang gezögert hatte, überhaupt einen Lehrling zu sich zu nehmen.

Sie wusste, dass der Versammlung, die aus den Geistern aller ehemaligen Außergewöhnlichen Zauberer bestand – ausgenommen ihres Begründers, des ersten Außergewöhnlichen Zauberers, Hotep-Ra –, jederzeit der Zutritt zum Zaubererturm gestattet werden musste. Ebenso wusste sie, dass sie so unvermutet nur in Zeiten der Gefahr zusammentrat, um den lebenden Außergewöhnlichen Zauberer mit dem geballten Wissen aller seiner Vorgänger zu unterstützen. Beim Anblick der langen Reihe von Geistern vor der Tür wurde ihr ganz flau vor Sorge – und Tertius Fume sah es mit Freuden.

Tertius Fume schwebte ein gutes Stück über der breiten weißen Treppe – im Leben war er klein gewesen, daher stieg er gern zwanzig Zentimeter in die Luft, um größer zu wirken. Die Gunst des Augenblicks nutzend, rief er mit dröhnender Stimme in die Große Halle: »Es gilt als höflich, wenn die lebende Außergewöhnliche Zauberin die Versammlung in den Zaubererturm bittet. Aber erforderlich ist es nicht, denn wir haben das Recht einzutreten. In der Vergangenheit gab es einige irregeleitete Außergewöhnliche, die uns nicht hereingebeten haben, und sie haben es immer bereut. Immer. Ich frage Sie also zum letzten Mal: Wollen Sie uns nicht hereinbitten?«

»Tertius Fume«, erwiderte Marcia, »Sie sind kein Außergewöhnlicher Zauberer. Ich bin nicht verpflichtet, Sie hereinzubitten.«

Der Geist blickte triumphierend. »Ich fürchte, da irren Sie sich, Miss Overstrand. Ich habe das Amt sieben Tage lang als Stellvertreter bekleidet, was mir zu der Ehre verhalf, Lila am Ärmel zu tragen. Hier.« Er deutete auf die Streifen an seinen Ärmelenden. Widerwillig sah Marcia hin. Zwischen den beiden goldenen Streifen, die deutlich vom Dunkelblau abstachen, machte sie eine Farbe aus, die lila hätte sein können. »Außerdem, Miss Overstrand, war ich es, der die Versammlung einberufen hat, und als Vorsitzender der Versammlung verlange ich Zutritt.«

»Sie haben sie einberufen? Aber wozu? Was ist geschehen?«

Tertius lächelte zufrieden, da es Marcia war, die nun die Fragen stellte. »Sie vergessen die Verfahrensordnung, Miss Overstrand. Zuerst wird die Versammlung eingelassen. Dann beantworten wir – vielleicht – Ihre Fragen.«

Marcia wusste, dass sie keine Wahl hatte. »Also schön«, sagte sie.

Tertius Fume lächelte mit dem Mund, aber nicht mit den Augen. »Also schön was, Miss Overstrand?«

Marcia wusste, was er zu hören verlangte – einen der vielen Artikel des Verhaltenskodex’, die sie in den hektischen Tagen nach ihrer plötzlichen Ernennung zur Außergewöhnlichen Zauberin hatte auswendig lernen müssen. Aber sie wollte diese Sätze nicht sprechen, und Tertius Fume wusste es. Und sie wusste, dass er es wusste. Sie merkte es an seinem spöttischen Grinsen und an der Art, wie er die Arme verschränkte, genau wie an jenem Morgen, als sie die Gewölbe besucht hatte.

Marcia holte tief Luft, und mit ihrer herausfordernd selbstsicheren Stimme, deren Klang die ganze Halle erfüllte, rief sie: »Als Außergewöhnliche Zauberin bitte ich die Versammlung hiermit in den Zaubererturm. Ich erkläre, dass ich mit ihrem Eintreten mein Amt als Außergewöhnliche Zauberin niederlege und eine Stimme unter vielen werde. An diesem Ort sind wir alle gleich.«

»Das gefällt mir schon besser«, sagte Tertius Fume, trat über die Schwelle und drohte Marcia mit dem Finger. »Denken Sie daran: eine Stimme unter vielen. Mehr sind Sie jetzt nicht mehr.« Der Geist schritt vollends herein und sah sich in der Großen Halle um, als gehöre sie ihm.

Alle Augen waren auf Tertius Fume gerichtet, und so nutzte Septimus die Gelegenheit, sich von Marcia fortzustehlen. Im Schatten am Rand der Großen Halle schlich er zum Eingang, wo er vorhin Jenna und Beetle bemerkt hatte.

»Hallo, Jenna«, flüsterte er. »Hallo, Beetle.«

»Oh, Sep«, erwiderte Jenna. »Ein Glück, dass dir nichts passiert ist. Tertius Fume hat...«

»Pst...« Septimus legte den Finger an die Lippen.

»Aber er ...«

»Pst! Ich muss mich konzentrieren, Jenna.« Septimus blickte so grimmig, dass sie nicht weiter zu sprechen wagte.

Septimus ging in seinem Gedächtnis rasch das riesige Regelbuch durch, das all die Vorschriften enthielt, die Rechte und Pflichten der Außergewöhnlichen Zauberer festlegten. Marcia ließ ihn jeden Tag einen Abschnitt lesen, und er war zuletzt bei Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften Abschnitt ii angelangt. Während er zusah, wie die lila Geister in die Halle strömten, blätterte er im Kopf ein paar Seiten zurück bis zu dem Abschnitt Einberufung der Versammlung und sah sich jeden Geist, der über die Schwelle kam, ganz genau an.

Die Große Halle begann sich zu füllen, und die lebenden Gewöhnlichen Zauberer wichen ehrerbietig zurück, um für die Geister Platz zu machen – keiner wollte einen ehemaligen Außergewöhnlichen passieren. Immer mehr Geister strömten in die Halle, bis die Gewöhnlichen Zauberer ganz an die Wände zurückgedrängt standen, sodass sie die wogende lila Masse in der Mitte wie ein schmaler blauer Saum umgaben. Eine erstaunlich große Zahl von Gewöhnlichen zwängte sich in die verschiedenen Schränke und Nischen. Tatsächlich wurde der Rekord für den Besenschrank, in dem nach einem denkwürdigen Bankett vor einigen Jahren achtzehn Zauberer Platz gefunden hatten, an diesem Abend noch übertroffen.

Jeder Außergewöhnliche Zauberer, der über die Schwelle trat, erschien aus Höflichkeit allen Anwesenden, sodass Septimus jeden Einzelnen sehen konnte. Manche waren schon lange ein Geist und stark verblasst, andere waren als Geist noch frisch und wirkten recht stofflich. Manche waren alt, andere jung, doch alle hatten einen wehmütigen Ausdruck im Gesicht, als sie jetzt noch einmal den Zaubererturm betraten.

Auch Beetle sah fasziniert zu. Beim Anblick so vieler Geister musste er unwillkürlich an bestimmte Berechnungen denken, die Jillie Djinn angestellt hatte. Ein einzelner Geist war immer bis zu einem gewissen Grad durchsichtig, aber die Dichte mehrerer Geister addierte sich so, dass sie zusammen die Sicht auf einen Gegenstand versperren konnten. Die Anzahl der Geister, die dafür nötig waren, hing von ihrem Alter ab, denn mit den Jahren wurden Geister immer durchsichtiger. Jillie Djinn hatte eine Formel entwickelt, mit der sich diese Zahl ermitteln ließ. Der Haken dabei war nur, dass die Durchsichtigkeit eines Geistes auch von seinem Gefühlszustand abhing. Und das irritierte Miss Djinn, wie Gefühlszustände im Allgemeinen. Trotzdem hatte sie errechnet, dass man fünfeinviertel Geister durchschnittlichen Alters und ausgeglichenen Gefühlszustandes brauchte, um einen Lebenden zu verdecken. Dies war auch der Grund, warum Septimus, als immer mehr Geister hereinströmten, Marcia am anderen Ende der Halle bald nicht mehr sehen konnte, doch seinen Augen entging kein einziger Geist, der hereinkam. Nach zweien hielt er ganz besonders Ausschau. Den einen wollte er sehen, den anderen nicht.

Die Aufgabe wurde ihm dadurch erleichtert, dass der Strom der Geister an der Tür immer wieder ins Stocken geriet, da praktisch jeder einen Augenblick stehen blieb und sich an dem Ort umsah, von dem er vor so langer Zeit geschieden war. Auf der Treppe bildete sich eine Schlange, die geduldig wartete, während Geist um Geist durch die Tür schwebte, kurz in die Runde blickte und sich einen Platz suchte. Der allerletzte Geist war der, nachdem Septimus sehnsüchtig Ausschau gehalten hatte – Alther Mella. Als großer und verhältnismäßig frischer Geist fiel Alther auf. Sein Gewand leuchtete noch kräftig, und seine Bewegungen wirkten energisch. Er sah ordentlich und gepflegt aus, viel ordentlicher und gepflegter als noch zu seinen Lebzeiten, was sich dem Umstand verdankte, dass die Instandhaltung, wie er häufig scherzhaft bemerkte, viel einfacher war. Sein Haar blieb stets sauber zu einem langen grauen Pferdeschwanz gebunden, und sein Bart behielt eine manierliche Länge, sodass beim Essen nichts mehr darin hängen blieb. Die weiße, im Regen glänzende Marmortreppe leer zurücklassend, trat Alther fast widerwillig in den Zaubererturm.

»Alther!«, flüsterte Septimus.

Althers Gesicht erhellte sich. »Septimus!« Dann verfinsterte sich seine Miene wieder. »Weißt du, was das ist?«, murmelte er.

Septimus nickte.

In der Großen Halle war Stille eingekehrt, und langsam schloss sich das große Silberportal. Marcia erklomm die unteren Stufen der blockierten Wendeltreppe, damit sie die Versammlung überblicken konnte. Sie hatte einen trockenen Mund, und ihre Hände zitterten. Sie vergrub sie tief in den Taschen, entschlossen, keine Spur von Angst zu zeigen.

Die Spannung im Turm stieg, und alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf die Außergewöhnliche Zauberin. Marcia ließ ihren Blick über das Meer aus Lila schweifen und hielt nach Septimus Ausschau. Wo war er nur hin? Keine Spur von ihm, und das ärgerte sie. In einem solchen Augenblick war der Platz des Lehrlings an der Seite seiner Meisterin. Wenn dies alles vorüber war, würde sie ein ernstes Wort mit ihm reden müssen. Auch von Alther war nichts zu sehen. Sie war enttäuscht und ein wenig gekränkt. Sie hätte erwartet, dass er ihr beistehen würde, aber offensichtlich befand er das nicht für nötig. Sie war allein.

Aber nicht ganz allein. Neben ihr, viel zu dicht neben ihr und absichtlich den Höflichkeitsabstand verletzend, stand Tertius Fume. Der Geist war ihr auf die Wendeltreppe gefolgt und schwebte nun gut fünfundzwanzig Zentimeter über der Stufe, um größer zu wirken als Marcia, die eine groß gewachsene Frau war. Marcia sah nach unten und bemerkte, dass das lila Meer der Außergewöhnlichen Zauberer sich teilte, um einen grünen Fleck durchzulassen. Mit Erleichterung sah sie, dass Septimus auf sie zukam. Jetzt wusste sie wenigstens, wo er steckte.

Tertius Fume verfolgte die Szene mit zufriedener Miene. »Ah«, sagte er. »Ich glaube, da naht der eigentliche Grund unserer Zusammenkunft.«

Marcia runzelte die Stirn. Was meinte Fume mit der eigentliche Grund?

Septimus war jetzt am Fuß der Wendeltreppe angelangt, und Marcia blickte zu ihm hinab, nun besorgt. »Wo warst du denn?«, fragte sie.

Was Septimus ihr zu sagen hatte, war nicht für Tertius Fumes Ohren bestimmt. »Könnten Sie bitte für einen Moment zu mir herunterkommen?«, fragte er Marcia.

Etwas in seiner Stimme veranlasste Marcia, ohne Zögern Tertius Fumes Mantel zu passieren und zu ihrem Lehrling hinabzusteigen.

»Mauscheleien sind verboten!«, brüllte Tertius Fume, als Septimus Marcia etwas zuflüsterte.

Verboten oder nicht, die Nachricht, die ihr Septimus brachte, war genau das, was Marcia hören wollte. »Bist du ganz sicher?«, flüsterte sie zurück.

»Ja.«

»Dem Himmel sei Dank. Ich war so in Sorge. Wegen des Rings – des doppelgesichtigen Rings. Ich habe ihn damals, nachdem ich den Kerl besiegt hatte, nicht aus dem Dunkelschleim gezogen. Später habe ich den großen Reinigungszauber durchgeführt und ihn gesucht, aber er war nicht da, und da dachte ich, alles sei in Ordnung. Obwohl ... manchmal habe ich mich schon gefragt, ob der Ring möglicherweise deshalb verschwunden war, weil er sich mit dessen Hilfe wieder zusammengesetzt hat und geflüchtet ist.«

»Aber er war doch nur noch eine Schleimpfütze«, sagte Septimus. »Überall auf dem Boden verteilt. Wie soll er sich danach wieder zusammengesetzt haben?«

»Tja ... man kann nie wissen. Der Ring ist sehr mächtig. Er hatte ihn auch wieder zusammengesetzt, nachdem ihn die Braunlinge gefressen hatten. Auf jeden Fall habe ich darauf geachtet, ob er vorhin mit hereingekommen ist, aber von hier hinten habe ich ihn nicht entdecken können. Sie sehen alle gleich aus.«

»Er nicht.«

»Nein, du hast recht. Dieser grässliche alte Hut – den würde er doch bestimmt tragen, nicht?«

Septimus grinste. »Ich glaube schon.«

Mit beschwingtem Schritt kehrte Marcia zu Tertius Fume zurück. »Ich brauche keine Erlaubnis, wenn ich mit meinem Lehrling sprechen will«, beschied sie dem Geist.

Tertius Fume lächelte. »Da täuschen Sie sich, Miss Overstrand. Denn Sie sind nicht länger Herrin über Ihr Reich.«

»Ach, wirklich?«, erwiderte Marcia und hob die Augenbrauen, als erheitere sie, was der Geist zu sagen hatte.

»Ja, Miss Overstrand. So lauten die Regeln. Sobald die Versammlung im Zaubererturm ist, sind wir alle gleich, wie Sie ganz richtig bemerkt haben.«

»Ich kenne die Regeln sehr genau, Mr. Fume. Nur Sie scheinen sie nicht richtig zu kennen. Von einer Versammlung kann keine Rede sein. Als jemand, der es mit der Einhaltung der Vorschriften peinlich genau nimmt, wissen Sie sicher auch, dass eine Versammlung vollzählig sein muss. Diese hier ist es nicht.«

»Selbstverständlich ist sie vollzählig«

»Nein.«

»Beweisen Sie es!«

»Ein gewisser DomDaniel ist nicht hier.«

Zaghafter Jubel regte sich dort, wo die Gewöhnlichen Zauberer standen. Tertius Fume blickte erbost.

»Und er wird auch nicht mehr kommen, Mr. Fume. Ich habe ihn letztes Jahr mit einem Reinigungszauber beseitigt. Die Versammlung ist nicht vollzählig, und sie kann es niemals werden. Deshalb, Mr. Fume, schlage ich vor, dass Sie und all diese reizenden Außergewöhnlichen Zauberer – die zu sehen mir eine große Freude war, haben Sie vielen Dank, dass Sie uns bei dem ungastlichen Wetter beehrt haben – in ihre gewohnten Gefilde zurückkehren und sich den Rest des Abends interessanteren Dingen widmen. Gute Nacht, allerseits.«

Draußen vor dem Zaubererturm stand, im Schatten des alten Drachenzwingers und halbwegs vor dem Regen geschützt, ein hagerer Bursche in einer nagelneuen Schreiberuniform. Er hielt eine schöne, mit goldenen Bändern verzierte Urne aus Lapislazuli in den Armen. Die Urne war fast so groß wie er selbst. Außerdem war sie sehr schwer, und die Muskeln an seinen Armen brannten wie Feuer, doch er wagte es nicht, die Urne abzusetzen, denn er war sich nicht sicher, ob er sie wieder würde hochheben können. Er fühlte sich elend und war mehr als nur ein bisschen verärgert – so hatte er sich das nicht vorgestellt, als Tertius Fume ihm eine »tragende« Rolle bei der Verdunkelung von Septimus Heaps Schicksal versprochen hatte.

Als der Regen aus seinen Haaren tropfte und an seiner Nase hinunterlief, wusste Merrin, dass er das schwere Ding nicht länger halten konnte – er beschloss, es oben auf die Treppe hinzustellen und dann zu verschwinden. Die Urne in den Armen, taumelte er über den Hof, als eine schrecklich vertraute Stimme plötzlich rief: »Geh mir aus dem Weg, Lehrling. Wie oft muss ich dir das noch sagen, Junge?«

Vor Schreck ließ er die Urne fallen. Sie landete auf seinen Zehen. »Autsch!«, jaulte er, hielt sich den Fuß und schaute sich panisch um. Wo war die Stimme aus der Vergangenheit hergekommen? Wo steckte er? Und ganz langsam erschien ihm der Besitzer der körperlosen Stimme. Merrin stieß einen gellenden Schrei aus. Er traute seinen Augen nicht – der spitz zulaufende schwarze Hut ... die schwarzen Schweinsaugen. Ein Schwindel befiel ihn, sein schlimmster Albtraum wurde wahr. DomDaniel war zurückgekommen, um ihn zu quälen.

Er schob hastig die Hände in die Taschen. Er wollte nicht, dass sein alter Meister den doppelköpfigen Ring sah.

»Nimm die Hände aus den Taschen und steh gerade«, knurrte der Geist. »Du bist ein Nichtsnutz.« Damit setzte der Geist DomDaniels zu Merrins Erleichterung unsicher seinen Weg fort, schwebte wacklig über den Hof und die Treppe zum Zaubererturm hinauf. Die silberne Tür schwang auf, helles Licht flutete aus der Großen Halle, ergoss sich über die weißen Marmorstufen, und ein vielstimmiger Ruf des Erstaunens drang aus dem Innern des Turms. Dann beobachtete Merrin, wie sich die Tür langsam wieder schloss, und er lächelte – er wollte jetzt nicht in Septimus Heaps Haut stecken. Um nichts in der Welt.

Seine Hand umschloss den kleinen Beutel mit Geldstücken in seiner Tasche – der Vorschuss für seine erste Woche im Manuskriptorium. Seine Laune wurde etwas besser. Mit dem Geld konnte er sich bei Mutter Custard neununddreißig Lakritzschlangen kaufen. Der Gedanke an Mutter Custards freundlichen Süßwarenladen und die Erinnerung an Mutter Custards gütiges Lächeln, als sie zusah, wie er sich die allererste Süßigkeit seines Leben aussuchte, stimmten ihn fröhlich. Warum bleiben, wo er nicht erwünscht war?

Aber Tertius Fume den Gehorsam vollständig zu verweigern, dazu fehlte ihm dann doch der Mut, und so hob er mit einer gewaltigen Anstrengung die Urne hoch und schleppte sie die Marmortreppe hinauf. Als er zitternd auf der obersten Stufe ankam und sich fragte, wie er die Urne absetzen konnte, ohne dass sie auf seinen Zehen landete, traten zwei große Gestalten in Kettenpanzern aus dem Schatten zu beiden Seiten der Tür. Sie zückten gleichzeitig einen Dolch, machten noch einen Schritt auf ihn zu und hielten ihm ihren Klingen an die Kehle. Vor Entsetzen vergaß Merrin jede Sorge um seine Zehen. Mit einem lauten Bums ließ er die Urne fallen und rannte davon. Die Questenwächter traten zurück und verschmolzen wieder mit dem Schatten.

Merrin blickte sich nicht um. Er sprang die Stufen hinunter und raste über den Hof unter den Großen Bogen. Dort blieb er stehen und zog etwas aus der Tasche, das wie ein schmutziger alter Tennisball aussah.

»Spürnase«, sagte er zu dem Tennisball, »zeig mir den schnellsten Weg zu Mutter Custards Laden.« Der Fährtensucherball hüpfte ein paarmal auf der Stelle, als überlege er, dann schoss er davon, bog scharf links in die Langfingergasse und gleich darauf rechts in den Miefweg ab. Bis zu Mutter Custards Laden waren es fünf Kilometer, aber das machte Merrin nichts aus. Er folgte dem Ball durch Tunnel, die mit Binsenlichtern beleuchtet waren, über große Backsteinbrücken und durch zahllose Gärten, und dann, mit seinen Kräften am Ende, verlor er ihn in einer schmalen dunklen Gasse aus den Augen. Aber er hatte Glück. Die Gasse führte schnurstracks auf den Süßwarenladen zu, und als er keuchend und schnaufend dort ankam, wurde er von einem auf der Stelle hüpfenden Spürnase bereits ungeduldig erwartet.

Merrin griff sich den Ball, steckte ihn in die Tasche und trottete schwerfällig in den Laden. Er würde eine ganze Wagenladung Lakritzschlangen brauchen, um sich von dem Schreck zu erholen, der ihm beim Anblick seines alten Meisters in die Glieder gefahren war. Und vielleicht noch ein paar Kaugummischnecken. Und Zuckerspinnen – jede Menge Zuckerspinnen.

Septimus Heap 04 - Queste
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